20. Villa Rossa 2023

Die Bodenschätze des Kapitalismus…

Die 20. Villa Rossa wird vom 21 August 2023 bis zum 26. August 2023 in der Villa Palagione Centro Interculturale – Associazione ­­Culturale bei Volterra stattfinden.

Ihr Thema: Die Bodenschätze des Kapitalismus…zur Sache Infrastruktur

1875 ist in Frankreich für einen solchen ganz besonderen Schatz ein Wort erfunden worden, das aus der Verknüpfung von „infra“ (Unterhalb) und „structura“ (Zusammenführung) entstand. Gemeint war ein Unterbau (französisch infrastructure), der sich auf die Urbarmachung von Böden und die Beseitigung von Unterschieden durch Messung (Nivellement) im Eisenbahnbau und dann auch der Einrichtungen zur Versorgung etwa mit Wasser, Strom bzw. Energie (Heizung, Licht) und Entsorgung sowie den dazu notwendigen Leitungs-, Straßen und Schienensysteme bezog. Im Englischen beschrieb „infrastructure“ übrigens vor allem die immobilen Bauten und Einrichtungen, die der Mobilisierung und Bereithaltung der Heere dienten.

Das alles geschah, als sich etwa in den europäischen Staaten verschiedenster Provenienz der Ehrgeiz einer präzisen logistischen Kontrolle der Grenzen ihrer nationalen Territorien und – sodann – auch ihrer kolonialen „Besitztümer“ entwickelte.

Infrastrukturen waren zunächst rasch wachsende Kapitalmachtbestände und soziale Ordnungsdienste oftmals auch in öffentlicher Hand, ein flottes Kleinkind des Kapitalismus. Es ging um die Schaffung von Zugängen zu materiellen Dingen und Ressourcen des Alltags und ihre Nutzung.  Die gängige übergreifende Formel dafür: Die Infrastruktur sichert die natürlichen Lebensgrundlagen, die erneuerbare Infrastruktur den Wohlstand‚. Die vielfältigen Beziehungen und Verbindung dieser hochgradig ungleich verteilten und oft ausgrenzenden und vulnerablen, immer neu umstrittenen „Lebensadern unserer Gesellschaft“ (van Laak) werden produziert, arrangiert oder auch zerstört, wieder hergestellt, also repariert, weiter entwickelt oder überholt, dann ersetzt, historisiert, verschwanden und wurden vergessen.

Letztlich freilich lässt sich die Geschichte der Infrastrukturen  bis in die Antike hinein zurückverfolgen. Seit der frühen Neuzeit entwickelten sich sporadisch und vereinzelt, zunehmend auch sukzessiv eine Vielfalt nachhaltiger und bestandsfähiger Basisfunktionen, Netzwerke und Vorleistungen in dann auch ausgreifenden nicht-materiellen Bereichen wie Sorge, Bildung, Gesundheit, Kommunikation oder Kultur als kollektive Güter oder Dienstleistungen. Sie verbreiteten sich durchaus ungleichmäßig, wurden auch europäisch, international, globalisiert. Gemeinsam war allen diesen Dynamiken aber: Infrastrukturen stehen für Bedingungen des alltäglichen Lebens. Vor allem seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts waren der Begriff und die Sachen, um die es immer wieder ging, rasch weit verbreitet: also etwa um Natur, Wasser, Kanäle, Luft, Räume, Energie, Strom, Treibstoff, Heizung, Ernährung, Lebensmittel, Bauten, Rohstoffe, Kies, Sand, Beton, Metall, Rohre, Wohnen, Straßen, Brücken, Transport, Mobilität, Auto, Treibstoff,  Entsorgung aber auch Wissen, Papier, Kultur,  Gesundheit, Bildung,  Kommunikation, Medien, Daten, Internet, Speicher, Institutionen, Logistik, Netze, Regulation, Knotenpunkte, Gesellschaft, Schutz, Recht …

Doch derlei Bodenschätze (ob als Über- oder Unterbau), diese Infrastrukturen also galten und gelten vielfach weiterhin als fremde, bloß technische, langweilige, gewöhnliche, normale, oft unsichtbare, graue, dauerhafte und daher selbstverständliche Dinge, die nur dann plötzlich zur Geltung kommen, wenn sie in Krisen, Katastrophen oder Kriegen ihre Wirkung, Konnektivität, Funktion und womöglich sogar auch noch Profitabilität verlieren. Dann werden sie plötzlich relevant und ihre vielfältige Schlüsselrolle im Alltag wurde sichtbar: etwa als am Dienstagabend des 14. Februar 2023 ein für den Datenverkehr (technische Infrastruktur!) der Lufthansa in Frankfurt reserviertes Glasfaserkabel der Telekom (Netzwerkinfrastruktur) bei Bauarbeiten (soziale Infrastruktur) der S-Bahn-Linie S6 (Verkehrsinfrastruktur) in Frankfurt Eschersheim beschädigt und auch noch mit Beton übergossen wurde (graue Infrastruktur), fielen nicht nur Telefon und Internet im Großraum Frankfurt und Teilen Hessens aus (Digitale und Kommunikationsinfrastruktur) , sondern auch der Flughafen Frankfurts (Luftfahrtinfrastruktur) wurde gesperrt. Oder das knapp 16seitige  Beschlusspapier der Ampel von Ende März 2023 („Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung“)  bemühte gleich 44mal den Begriff. Infrastrukturen sind daher ausgreifend und ihre private und öffentliche Wirkungsmacht existiert von Peripherien bis in global operierende Zentren, die – wie gegenwärtig – zu  planetar konkurrierende oder kooperierende Machtblöcke ausbilden. Und nicht zu vergessen: Infrastruktur-Aktien wird „eine glänzende Zukunft“ vorausgesagt („Handelsblatt“ 1.2.2023).

Auch wenn die Rolle der Infrastrukturen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen hat, ist sie mit der Vielfachkrise von Pandemie, Krieg, sozialer Krise, Klimawandel und seinen Katastrophen und der Dynamik geopolitischer und -ökonomischer Blockbildung förmlich explodiert. Wem gehören diese Infrastrukturen? Wer entscheidet über sie? Welche Ziele werden mit der technischen, sozialen, kritischen, militärischen, globalen oder öffentlichen Infrastruktur verfolgt?

 

 

 

 

 

 

Bei der diesjährigen „Villa Rossa“ wird eine Reihe von Themen diskutiert wie:

  • Infrastruktur als „Bodenschätze des Kapitalismus“ – technische und versorgende Infrastrukturpolitiken und ihre Akteure und Konflikte
  • Der Kreislauf der Scheiße oder Natur als Baukasten
  • Unvollendet: Die Entdeckung der grünen Infrastruktur
  • Infrastrukturen zwischen Krieg und Frieden
  • Chinas Belt and Road-Initiative: Infrastruktur als Geopolitik?
  • Die Infrastruktur – ein weiblicher Blick!
  • Die Infrastruktur der Solidarität
  • Ökologischen Transformation und gewerkschaftliche Interessenpolitik in der „neuen Welt imperialer Geopolitik“

Beiträge / Input

Montag 21.8. – Vormittag

Infrastrukturen als „Bodenschätze“ des Kapitalismus – technische und versorgende Infrastrukturpolitiken und ihre Akteure und Konflikte (Hans-Jürgen Bieling, Tübingen)
Zum Thema: Wir haben derzeit eine neue Konjunktur der Infrastrukturpolitik, in der die Bereitstellung, Organisation und Nutzung von öffentlichen – sozialen und stärker technischen – Infrastrukturen ausgehandelt werden. Die zukünftige Gesellschaft, ihre Produktions- und Lebensweise, wird hierdurch strukturiert. Entsprechend gibt es zahlreiche Infrastrukturkonflikte. In diesen reflektieren sich – in der Verknüpfung von lokalen, nationalen und globalen Prozessen – unterschiedliche Gestaltungslogiken.
Literatur:  Streeck, Wolfgang (2019): Der alltägliche Kommunismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 64(6), 93-105.; Bieling, Hans-Jürgen/Möhring-Hesse, Matthias (2022): Öffentliche_infrastrukturen: gesellschaftliche Konflikte und staatliche Gewährleistung, in: Bürger & Staat 72(1-2), 4-11.
Zur Person: Hans-Jürgen Bieling ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Tübingen.

Montag, 21.8. – Nachmittag

Der Kreislauf der Scheiße oder Natur als Baukasten (Jürgen Bönig, Hamburg)
Zum Thema: Der Schatz des Bodens ist in mindestens zwei Phasen unter das Kapital subsumiert worden –beim Übergang vom feudalen zum unbeschränkten privaten bürgerlichen Eigentum und im 20. Jahrhundert in der realen Unterordnung bäuerlicher Produzenten unter die Bedingungen des Kapitals mit Maschineneinsatz, Kunstdünger, zertifizierten Saatgut, Insektiziden und Herbiziden. Die Veränderung der Herrschafts- und Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft hat mit dem unterkomplexen und instrumentellen Verständnis von Natur zur Zerstörung des Bodens, der Tier- und Pflanzenwelt und zur Klimakatstrophe geführt, der andere Ansätze der Nutzung des evolutionär entstanden Natursysteme gegenübergestellt werden müssen. Literatur/Texte: Jürgen Bönig: Türkisches Gemüse sowie das Interview mit Hubert Sumser (Mitglied des Entomologischen Vereins Krefeld) Insektensterben: in „lunapark21 Heft 45, S. 48-51, ursprünglich Wildcat Nr. 102, 2018.
Zur Person: Dr. Jürgen Bönig, Technikhistoriker, 28 Jahre im Museum der Arbeit tätig, in Karl Marx in Hamburg 2017 und Otto Meißner, Verleger des „Kapital“, Ein 1848er in Hamburg, 2023 mit dem Übergang von feudaler zu bürgerlicher Bodennutzung befasst. In der Redaktion der lunapark21, Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie, die nach dem Tod von W. Wolf mit Heft 62 endet.

Montag, 21.8. – Nachmittag

Unvollendet: Die Entdeckung der grünen Infrastruktur (Günther Bachmann, Frankfurt)
Zum Thema: 
Was tun Hamster, Wälder und der Taumel-Lolch für die Infrastruktur, außer dass sie Platz machen? Häfen, IT, Strassen, Leitungen – Infrastruktur ist grau/hart. Die grün/weiche Infrastruktur der Natur ist unterschätzt. Jetzt setzen Trends zur Kapitalisierung und Sozialisierung der Natur gleichzeitig ein. Der Kapitalismus hat Pferdekutschen ersetzt, jetzt macht er es mit Dampfmaschine und Öl. Aber die Vergesellschaftung ist grün.
Zur Literatur bzw. Text / Hinweis: Ich rate dazu, sich die Video-Serie Nature Is Speaking anzusehen, insbesondere  Hannes Jaenicke, https://youtu.be/TCOqXByq2nU Julia Roberts (mit deutschen Untertiteln), https://youtu.be/2WULrYjZj9Y  sowie  Marie Nasemann https://youtu.be/SxlcgvJWLIc
Zur Person: 
Günther Bachmann unterstützt die Stiftung GegenStand seit langem. Er ist im Umweltschutz und in der Nachhaltigkeitspolitik aktiv. Näheres steht auf www.guentherbachmann.de.

Dienstag 22.8. Vormittag

Infrastrukturen zwischen Krieg und Frieden (Jürgen Scheffran, Hamburg)
Zum Thema: 
Militär, Rüstung und bewaffnete Konflikte verbrauchen und belasten natürliche Ressourcen (Luft, Wasser, Land, Wälder, Ozeane, Bodenschätze), schädigen damit verbundene Infrastrukturen und Dienstleistungen (wie Energie, Nahrung, Gesundheit, Abwasser, Abfälle) und beeinträchtigen den Erhalt von Ökosystemen. Die Umwelt wird Opfer von Kriegen, dafür manipuliert und eingesetzt, bis hin zu Ökoziden. Im Ukrainekrieg werden Infrastrukturen zerstört (Getreideproduktion, Pipielines, Strom- und Wasserversorgung, Staudämme, Verkehrs- und Kommunikationssysteme). Cyberangriffe und hybride Kriege nutzen zivile Infrastrukturen über nationale Grenzen hinweg. Der Schutz und die Mobilisierung kritischer Infrastrukturen militarisiert die Gesellschaft. Steigende Militärausgaben gehen auf Kosten von nachhaltigem Umwelt- und Klimaschutz, militärische Altlasten verursachen hohe Kosten und Schäden. Geopolitische Konflikte sind verbunden mit der Ausbeutung wertvoller Ressourcen und neokolonialen Strukturen. Sozial-ökologische Transformation und Konflikttransformation bedingen einander und erfordern die Schaffung von Infrastrukturen für eine nachhaltige Friedenssicherung in den Grenzen des Anthropozäns, unterstützt durch die Zusammenarbeit zivilgesellschaftlicher Bewegungen auf allen Ebenen.
Zur Literatur / Texte (Hauptbeiträge)Scheffran J (2020) Geopolitik der Energiewende: Infrastrukturen für den nachhaltigen Frieden. Wissenschaft & Frieden, 4/2020, S. 38-40. https://wissenschaft-und-frieden.de/artikel/geopolitik-der-energiewende/; Scheffran J (2023) Limits to the Anthropocene: Geopolitical conflict or cooperative governance? Frontiers in Political. Science  5:1190610; Anthropocän [deutschsprachige Seminarvorlage].  (Hintergrundbeiträge:) Scheffran J. (2019) Formen hybrider Kriege . Zwischen Ambivalenz und Komplexität. In: Wissenschaft & Frieden. 3/2019; Scheffran J (2022) Ökozid. Zwischen Klimaklagen und Verbrechen gegen den Frieden. Wissenschaft und Frieden, 1/22, S. 38-40.; Froese R, Scheffran J, Schilling J (2023) Transformation durch Eskalation? Klimaprotest zwischen Demokratie und Kriminalisierung. Wissenschaft & Frieden 2023/2, 6–9.
Zur Person: Prof. Dr. Jürgen Scheffran leitet die Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit am Institut für Geographie und im Klima-Cluster CLICCS der Universität Hamburg. Nach dem Physikstudium an der Universität Marburg hat er in Forschungsgruppen in Darmstadt, Potsdam, Paris und Illinois gearbeitet. Er ist im Vorstand der Naturwissenschaftler-Initiative Verantwortung für Frieden und Zukunftsfähigkeit, im Beirat der Vereinigung Deutscher Wissenschaftler (VDW) und einer der Leiter des International Network of Engineers and Scientists for Global Responsibility (INES).

Dienstag 22.8. Nachmittag

Chinas Belt and Road-Initiative: Infrastruktur als Geopolitik?  (Felix Wemheuer, Köln)
Zum Thema:
Die chinesische Regierung propagiert die BRI-Initiative vor allem als eine Vielzahl von Infrastrukturprojekten, welche den eurasischen Kontinent enger wirtschaftlich verbinden und eine Win-Win-Situation für alle schaffen würden. Der Vortrag wird analysieren in welchem Zusammenhang das Projekt mit geo-strategischen Debatten in China sowie der Verschärfung des sino-amerikanischen Konfliktes steht.
Literatur / Texte : Chinas neue Seidenstraßen, in:  Aus Politik und Zeitgeschichte (APUZ) 43-45/2022 , bes. S.4-10 und 40-47;  Mayer and Zhang 2020 :Theorizing China world integration sociospatial reconfigurations and the modern silk roads, in: Review of International Political Economy, DOI: 10.1080/09692290.2020.1741424.
Zur Person:  Felix Wemheuer ist Professsor für Moderne China-Studien an der Universität zu Köln und Vertrauensdozent der RLS. Zu seinen Veröffentlichungen gehören „Chinas große Umwälzung“, „Marktsozialismus“ sowie „A Social History of Maoist China“. Seit 2020 führt er auf seinem youtube-Sender „Studying Maoist China“ regelmäßig Interviews durch.

Dienstag 22.8. Nachmittag

Chinas Investition in Infrastruktur in Deutschland.
(Meiting Zhu, Frankfurt)
Zum Thema: Es wird in der Politik und in Medien oft behauptet, China kauft Deutschland leer. An Hand von einigen Investitionsfällen (z.B. Übernahme von KUKA, Beteiligung an Hamburger Hafen) wird dargestellt, dass die Wahrheit viel komplizierter ist. Die Sichtweise von der deutschen wie von der chinesischen Allgemeinheit (ausgedruckt durch Berichterstattung und Sozialen Medien) wird in meinem Vortrag behandelt.  Außerdem wird dargestellt, welche Probleme chinesische Investoren in Deutschland haben und inwieweit sie ihre ursprüngliches Vorhaben umsetzen können.
Literatur/Texte/Hinweise: Folgen Anfang Juli
Zur Person: Meiting Zhu ist geboren in der VR China und lebt seit 1992 in Köln. Sie ist Rechtsanwältin in der Kanzlei SZA Schilling Zutt & Anschütz, dort verantwortlich für China Desk. Sie ist seit 20 Jahren als Anwältin in Deutschland zugelassen und ist auf Intellectual Property und Gesellschaftsrecht spezialisiert. Sie betreut hauptsächlich chinesischen Unternehmen bei der Investitionen in Deutschland / EU.

Mittwoch, 23.8. Vormittag:

Infrastruktur der Villa Palagione: Infrastruktur verstehen. Vor Ort.
Mit Antonella Stillitano und Gerhard Wahl

Donnerstag 24.8. Vormittag und Nachmittag

Die Infrastruktur – der weibliche Blick.

Die Bundeszentrale für politische Bildung definiert Infrastruktur als «alle staatlichen und privaten Einrichtungen, die für eine ausreichende Daseinsvorsorge und wirtschaftliche Entwicklung als erforderlich gelten. Die Infrastruktur wird meist unterteilt in technische Infrastruktur (z. B. Einrichtungen der Verkehrs- und Nachrichtenübermittlung, der Energie- und Wasserversorgung, der Entsorgung) und soziale Infrastruktur (z. B. Schulen, Krankenhäuser, Sport- und Freizeitanlagen, Einkaufsstätten, kulturelle Einrichtungen).  Infrastrukturen sind auch hier dadurch gekennzeichnet, dass sie den Nutzer:innen zumeist erst auffallen, wenn sie ausfallen, brüchig werden oder gar nicht vorhanden sind.  Das gilt besonders für Frauenarbeit, auf die hier ein weiblicher Blick geworfen werden soll. Thematisiert werden aber auch Infrastrukturen, die Fraueninteressen brutal vernachlässigen.

Zum Thema: Kinder, Küche, Pflege- unbezahlte Reproduktionsarbeit.   (Marianne Kolter, Hamburg)  
Weltweit leisten Frauen den Hauptanteil an der unbezahlten Arbeit in Familien und gemeinschaftlichen Zusammenhängen, wenn es um die alltägliche Hausarbeit, die Betreuung der Kinder und die Pflege kranker oder alter Angehöriger geht. Diese Leistung findet wenig Beachtung, so dass auch nur wenig darüber nachgedacht wird, wie sie für die Betroffenen erleichtert werden könnte. Das Thema Infrastruktur zur Unterstützung findet sich in der einschlägigen Literatur kaum, allenfalls wenn es um Kindertagesstätten und Krippen geht oder wenn die Sozialverbände einfordern, dass es an Tages- und Kurzzeitpflegeplätzen fehlt. Doch sie muss die Defizite der öffentlichen Infrastruktur von der Kindererziehung bis zur Pflege ausgleichen. Leider diskutiert auch die Linke die unbezahlte Reproduktionsarbeit nicht mehr vor dem Hintergrund der grundsätzlichen Infragestellung der bürgerlichen Familie, sondern beschränkt sich weitgehend auf Forderungen nach mehr Anerkennung, Bezahlung und Berücksichtigung in der Rente. Dabei dachten bereits frühe Sozialist:innen und Sozialreformer:innen (Charles Fourier, Robert Owens, Flora Tristan)  über Alternativen zur isolierten Kleinfamilie nach.
Literatur/Text: Wird nachgereicht.
Zur Person: Vormals Landessprecherin DIE LINKE. Schleswig-Holstein und Vorsitzende der Fraktion DIE LINKE im Kreistag Pinneberg.

Die Subventionierung des Zuverdienerinnenmodells. (Andrea Theiß, Wetzlar)
Zum Thema: Die gesetzlichen Bedingungen, die das Zuverdienerinnenmodell subventionieren und dadurch Infrastrukturen verfestigen und gestalten.
Literatur/Text:  Elterngeld: Familienministerien bestätigt geplante Einsparungen; Soziologin Allmendinger kritisiert Wut über ElterngeldkappungGewerkschaften kritisieren  Einschränkungen beim Elterngeld scharf
Zur Person:
Andrea Theiß, Mutter von drei jetzt erwachsenen Söhnen, seit 33 Jahren Gewerkschaftssekretärin in einer IG Metall Geschäftsstelle, Arbeitsschwerpunkte: Frauen- und Gleichstellungspolitik, Sozialrechtsberatung, Arbeit- und Gesundheitsschutz, Teilhabe- und Qualifizierungspolitik, Eingruppierungsfragen. Stellv. DGB-Kreisvorsitzende, Mitglied in Selbstverwaltungsgremien der GKV, DRV und örtlichen Arbeitsagentur sowie im Fachbeirat des kommunalen Jobcenters; ehrenamtliche Richterin beim LAG und LSG. Seit mehr als 25 Jahren Mitglied der Frauenkommission des Lahn-Dill-Kreises, Mitglied im Verein Frauenhaus Wetzlar e.V., Zehn Jahre Vorsitzende eines Schüler:innen-Betreuungsvereins; Mitinitiatorin der Initiative Lucie Kurlbaum-Beyer – Mehr Geschlechtergerechtigkeit bei Straßenbenennungen“; Mitarbeit in der PSAG-Frauen.

Entgeltliche Pflege (Godela Linde, Marburg)
Zum Thema: Auch die entgeltliche Pflege ist Frauenarbeit, die auf das Kümmer-Gen von Frauen statt auf faire Arbeitsbedingungen setzt, die Gepflegten kommt das dennoch teuer zu stehen.
Literatur/Text:  Der paritätische Gesamtverband: Pflege? Aber sicher.
Zur Person:
Godela Linde war im gewerkschaftlichen Rechtsschutz beschäftigt. Mit Rentenbeginn ist sie als Anwältin, Autorin und Referentin tätig, vorzugsweise mit Frauenthemen. Sie ist stellvertretende Vorsitzende des BFR ver.di Mittelhessen. Und sie hat seit Jahrzehnten die Teilnahme von weit über 100 Referent:innen an der Villa Rossa organisiert.

Anders: Skandinavien. (Silke Nötzel, Frankfurt)
Zum Thema: Wie die Interessen der Gepflegten nicht vernachlässigt werden.
Literatur / Text:
Arbeitsbedingungen von Pflegenden. In Schweden läuft manches besser.
Zur Person:
Silke Nötzel
IGM Vorstand Stabstelle Mobilität und Fahrzeugbau, Schwerpunkt Transformation Automobilindustrie. 2002 -2012 verantwortlich für Frauen und Gleichstellungspolitik im IGM Bezirk Mitte.

Öffentliche Infrastruktur und Fraueninteressen. Beispiele.
1: Frauenhäuser (Pia Bräuning, Frankfurt)
Zum Thema: Die
Gewalt gegen Frauen hat zugenommen. Die Zahlen von „Partnerschaftsgewalt“ und häuslicher Gewalt sind in 2022 um 9,1 bzw. 8,5 Prozent gestiegen und sie betrifft zu 80 bzw. 71 Prozent Frauen. Während die Gewalt zum großen Teil von Männern ausgeht.  Auch im betrieblichen Kontext ist sexuelle Belästigung ein Thema – ein immer drängenderes Thema. Am Arbeitsplatz ist sexuelle Belästigung und eine Benachteiligung aufgrund des Geschlechts durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verboten. Es gibt Betriebsvereinbarungen, die klare Sanktionen benennen. Die ILO Konvention 190 ruft alle Staaten dazu auf ein belästigungsfreies (Arbeits-)Umfeld zu erschaffen. Kurz gesagt: In der betrieblichen Sphäre gibt es Maßnahmen und starke Verbündete im Kampf gegen Gewalt gegen Frauen. Aber wie ist um den privaten Bereich bestellt? Es gibt Beratungsstellen wie das Hilfetelefon, das immer stärkeren Zulauf bekommt und es soll eine App geben, die gerichtsfest Beweise dokumentiert. Die Gerichte räumen oftmals dem Recht der Väter ihre Kinder zu sehen einen höheren Stellenwert ein als dem Schutz der Frauen vor den gewalttätigen Männern. Schutzräume wie Frauenhäuser sind überlastet und können keine Frauen mehr aufnehmen. So sind die Frauen auf sich alleine gestellt mit ihren Ängsten und Sorgen und der Gefahr vom (Ex)Partner getötet zu werden. In 2021 wurden 113 Frauen durch den (Ex) Partner getötet.
Literatur / Texte: Zur Istanbul-Konvention
Zur Person:
Zur Person: Pia Bräuning ist Gewerkschaftssekretärin bei der IG Metall und beschäftigt sich mit der Gleichstellung von Frauen und Männern. Ihre Themenschwerpunkte sind Entgeltgleichheit, Gewalt gegen Frauen und partnerschaftliches Verhalten am Arbeitsplatz. In Marburg studierte sie Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre
2. Fußballstadien: Sport – viel Geld für Stadien – Tanzen ist Privatsache… (Marianne Kolter)
Zum Thema: Die Stadt Kiel will viel Geld für ein neues Fußballstadion ausgeben. Wenn es nach dem Willen des Vereins Holstein Kiel geht, darf diesen heiligen Rasen ausschließlich die 1. Männermannschaft nutzen. Ähnliche Ungleichheiten in der Stadionförderung von Frauen- und Männermannschaften finden sich auch andernorts. Sportarten, die mehrheitlich von Frauen betrieben werden, z.B. Ballett oder moderne Tanzformen sind ganz und gar Privatsache und finden nur an wenigen Orten öffentliche Unterstützung.
Literatur / Text: (Wird nachgereicht)
3. Mobilität (Silke Nötzel)
Zum Thema:
Verkehrsregelungen und -investitionen orientieren sich an dem berufstätigen Mann, der morgens im Auto zur Arbeit und abends zurückfährt, nicht aber an der Fußgängerin, die zu Fuß Besorgungen macht und Kinderwagen oder Rollstuhl schiebt.
Literatur: Frauen-Gender-Mobilität
4. Toiletten (Godela Linde) (Marburg)
Zum Thema: Auch hier gibt es viel Anderes!
Literatur / Texte: Notdürftige Infrastrukturen: Öffentliche Toiletten zwischen Neoliberalisierung und Utopie.
5.  Gender Mainstreaming (Pia Bräuning)
Zum Thema:
Kommen die Ausgaben, die ein Staat, eine Stadt, ein Landkreis macht allen zugute? Eine rhetorische Frage: Selbstverständlich profitieren nicht alle Menschen gleichermaßen von gemeinwohlorientierten Ausgaben. Das Ungleichgewicht in Bezug auf Klassen- oder Schichtzugehörigkeit sind bekannt. Was aber ist mit dem Unterschied zwischen den Geschlechtern? In den 1980er Jahren wurde erstmals das Konzept des Gender Budgetings geprägt. Das GenderKompetenzZentrum schreibt über die Ziele: „Gender Budgeting ist […] Teil der gleichstellungspolitischen Strategie Gender Mainstreaming. Gender Budgeting fokussiert die genderbezogene Analyse und die gleichstellungsorientierte Bewertung der Verteilung von Ressourcen. Diese sind insbesondere Geld, Zeit, bezahlte bzw. unbezahlte Arbeit. Das Ziel von Gender Budgeting ist die Gleichstellung von Frauen und Männern bei der Ressourcenverteilung.“ Z.B.: etwa die Corona Hilfsmaßnahmen wurden auf Geschlechtergerechtigkeit hin überprüft und es zeigte sich eine starke Ungleichverteilung zugunsten der Männer.   . Im Seminar werden wir uns das Konzept, die Maßnahmen und die Auswirkungen genauer ansehen.
6. Genderbudgeting. Paradebeispiel Wien Als Paradebeispiel für sorgsame Abwägung gilt Wien, wo Auswirkungen von Vorhaben vorab geprüft werden. (Andrea Theiß)

Freitag 25.8. Vormittag

Ökologische Transformation und gewerkschaftliche Interessenpolitik in der ‚neuen Welt imperialer Geopolitik“  (Hans-Jürgen Urban, Frankfurt)

Zum Thema: Der Beitrag diskutiert die mehr als komplexe Lage gewerkschaftlicher Interessenpolitik in der ökologischen Transformation des fossilen Kapitalismus. Dies soll unter Berücksichtigung der globalen Veränderungen geschehen, die der schwedische Marxist Göran Therborn  als Eintritt in eine Welt imperialer geopolitischer Konflikte beschreibt. Zugleich soll der Versuch unternommen werden, Aspekte der vorherigen Seminar-Diskussionen im Sinne einer Abschlussdebatte einzubeziehen.
Zur Literatur:  Urban, Hans-Jürgen (2022), Zeitenwende wohin? in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7, S. 79-88.; Urban, Hans-Jürgen (2022): Treiber oder Vetospieler? Das Dilemma der Gewerkschaften in der sozial-ökologischen Transformation, in: Becke, Guido/Bleses, Peter (Hrsg.): Interdependenzen von Arbeit und Nachhaltigkeit. Weinheim: Beltz Juventa, 2022, S. 177-190; Aktuelle Publikationen: Hans-Jürgen Urban/Stephan Hebel (2023): Krise. Macht. Arbeit. Über Krisen des Kapitalismus und Pfade in eine nachhaltige Gesellschaft. Frankfurt/New York: Campus. (i. E.).
Zur Person: Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandmitglied der IG Metall, zuständig für die Themen Sozialpolitik sowie Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik. Er ist Honorarprofessor für Soziologie und war vormals Privatdozent  an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Mitglied im Institutsbeirat DGB Index Gute Arbeit und Mit-Herausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“.

Wir machen darauf aufmerksam, dass die hier zur Verfügung gestellten Textauszüge ausschließlich zur Arbeit in dieser Veranstaltung benutzt werden dürfen.

Stichwort zur Villa Rossa: Seit 1989 gibt es diesen „Lernort“ (Urban) unter verschiedenen Trägern und mittlerweile mit weit über 1000 Mitwirkenden (die Anzahl der Mitwirkenden – pro Seminarwoche 30-40 Teilnehmer und Teilnehmerinnen- ist begrenzt) und 120 ReferentInnen. Seit 2003 wird dieses einwöchige Seminar von der Stiftung gegenStand und dem ver.di Bildungswerk Hessen durchgeführt sowie von der Rosa Luxemburg Stiftung und Unterstützer*innen gefördert. Näheres zur Geschichte einer Villa findet sich in dem Buch „Mosaiklinke Zukunftspfade“ (2021).  In der Historie geht es um Sinngeneratoren, patrimonialen Kapitalismus, Schotterstraßen, Steineichen, Lesungen, Zeit, romantische Bilder und Gefühle – und um Politik.

Veranstaltungen 1989-2023

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Infoseite zur Villa Rossa