Die Bodenschätze des Kapitalismus…
Die 20. Villa Rossa wird vom 21 August 2023 bis zum 26. August 2023 in der Villa Palagione Centro Interculturale – Associazione Culturale bei Volterra stattfinden.
Ihr Thema: Die Bodenschätze des Kapitalismus…zur Sache Infrastruktur
1875 ist in Frankreich für einen solchen ganz besonderen Schatz ein Wort erfunden worden, das aus der Verknüpfung von „infra“ (Unterhalb) und „structura“ (Zusammenführung) entstand. Gemeint war ein Unterbau (französisch infrastructure), der sich auf die Urbarmachung von Böden und die Beseitigung von Unterschieden durch Messung (Nivellement) im Eisenbahnbau und dann auch der Einrichtungen zur Versorgung etwa mit Wasser, Strom bzw. Energie (Heizung, Licht) und Entsorgung sowie den dazu notwendigen Leitungs-, Straßen und Schienensysteme bezog. Im Englischen beschrieb „infrastructure“ übrigens vor allem die immobilen Bauten und Einrichtungen, die der Mobilisierung und Bereithaltung der Heere dienten.
Das alles geschah, als sich etwa in den europäischen Staaten verschiedenster Provenienz der Ehrgeiz einer präzisen logistischen Kontrolle der Grenzen ihrer nationalen Territorien und – sodann – auch ihrer kolonialen „Besitztümer“ entwickelte.
Infrastrukturen waren zunächst rasch wachsende Kapitalmachtbestände und soziale Ordnungsdienste oftmals auch in öffentlicher Hand, ein flottes Kleinkind des Kapitalismus. Es ging um die Schaffung von Zugängen zu materiellen Dingen und Ressourcen des Alltags und ihre Nutzung. Die gängige übergreifende Formel dafür: ‚Die Infrastruktur sichert die natürlichen Lebensgrundlagen, die erneuerbare Infrastruktur den Wohlstand‚. Die vielfältigen Beziehungen und Verbindung dieser hochgradig ungleich verteilten und oft ausgrenzenden und vulnerablen, immer neu umstrittenen „Lebensadern unserer Gesellschaft“ (van Laak) werden produziert, arrangiert oder auch zerstört, wieder hergestellt, also repariert, weiter entwickelt oder überholt, dann ersetzt, historisiert, verschwanden und wurden vergessen.
Letztlich freilich lässt sich die Geschichte der Infrastrukturen bis in die Antike hinein zurückverfolgen. Seit der frühen Neuzeit entwickelten sich sporadisch und vereinzelt, zunehmend auch sukzessiv eine Vielfalt nachhaltiger und bestandsfähiger Basisfunktionen, Netzwerke und Vorleistungen in dann auch ausgreifenden nicht-materiellen Bereichen wie Sorge, Bildung, Gesundheit, Kommunikation oder Kultur als kollektive Güter oder Dienstleistungen. Sie verbreiteten sich durchaus ungleichmäßig, wurden auch europäisch, international, globalisiert. Gemeinsam war allen diesen Dynamiken aber: Infrastrukturen stehen für Bedingungen des alltäglichen Lebens. Vor allem seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts waren der Begriff und die Sachen, um die es immer wieder ging, rasch weit verbreitet: also etwa um Natur, Wasser, Kanäle, Luft, Räume, Energie, Strom, Treibstoff, Heizung, Ernährung, Lebensmittel, Bauten, Rohstoffe, Kies, Sand, Beton, Metall, Rohre, Wohnen, Straßen, Brücken, Transport, Mobilität, Auto, Treibstoff, Entsorgung aber auch Wissen, Papier, Kultur, Gesundheit, Bildung, Kommunikation, Medien, Daten, Internet, Speicher, Institutionen, Logistik, Netze, Regulation, Knotenpunkte, Gesellschaft, Schutz, Recht …
Doch derlei Bodenschätze (ob als Über- oder Unterbau), diese Infrastrukturen also galten und gelten vielfach weiterhin als fremde, bloß technische, langweilige, gewöhnliche, normale, oft unsichtbare, graue, dauerhafte und daher selbstverständliche Dinge, die nur dann plötzlich zur Geltung kommen, wenn sie in Krisen, Katastrophen oder Kriegen ihre Wirkung, Konnektivität, Funktion und womöglich sogar auch noch Profitabilität verlieren. Dann werden sie plötzlich relevant und ihre vielfältige Schlüsselrolle im Alltag wurde sichtbar: etwa als am Dienstagabend des 14. Februar 2023 ein für den Datenverkehr (technische Infrastruktur!) der Lufthansa in Frankfurt reserviertes Glasfaserkabel der Telekom (Netzwerkinfrastruktur) bei Bauarbeiten (soziale Infrastruktur) der S-Bahn-Linie S6 (Verkehrsinfrastruktur) in Frankfurt Eschersheim beschädigt und auch noch mit Beton übergossen wurde (graue Infrastruktur), fielen nicht nur Telefon und Internet im Großraum Frankfurt und Teilen Hessens aus (Digitale und Kommunikationsinfrastruktur) , sondern auch der Flughafen Frankfurts (Luftfahrtinfrastruktur) wurde gesperrt. Oder das knapp 16seitige Beschlusspapier der Ampel von Ende März 2023 („Modernisierungspaket für Klimaschutz und Planungsbeschleunigung“) bemühte gleich 44mal den Begriff. Infrastrukturen sind daher ausgreifend und ihre private und öffentliche Wirkungsmacht existiert von Peripherien bis in global operierende Zentren, die – wie gegenwärtig – zu planetar konkurrierende oder kooperierende Machtblöcke ausbilden.
Auch wenn die Rolle der Infrastrukturen in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen hat und mittlerweile immer mehr für eine Absage und praktische Überwindung eines halben Jahrhunderts neoliberaler Politik steht, so ist sie mit der Vielfachkrise von Pandemie, Krieg, sozialer Krise, Klimawandel und seinen Katastrophen und der Dynamik geopolitischer und -ökonomischer Blockbildung förmlich explodiert. „Infrastruktur“ steht nachgerade für alles – zumindest im Deutschen Bundestag, ob es um die schlichte „Beschleunigung bedeutsamer Infrastrukturvorhaben“ (SPD) oder um einen „verstärkten Ausbau der Stellplatzinfrastruktur für Camping-Reisemobile“ (CDU) geht.
Dazu kommen passende Beiwörter: technische, soziale, kritische, militärische, globale oder öffentliche Infrastruktur. Und nicht zu vergessen: Infrastruktur-Aktien wird „eine glänzende Zukunft“ vorausgesagt („Handelsblatt“ 1.2.2023). Ein weites Feld.
Bei der diesjährigen „Villa Rossa“ wird eine Reihe von Themen diskutiert wie:
- Infrastruktur als „Bodenschätze des Kapitalismus“ – technische und versorgende Infrastrukturpolitiken und ihre Akteure und Konflikte
- Unvollendet: Die Entdeckung der grünen Infrastruktur
- Die Entstehung, Geschichte und Praxis der Infrastrukturen des Militärischen und:
- Infrastrukturpolitik als Friedenspolitik?
- Chinas Belt and Road-Initiative: Infrastruktur als Geopolitik?
- Infrastruktur der Villa Palagione. Infrastruktur verstehen. Vor Ort.
- (Politische Konflikte um Infrastruktur in Italien)
- Die Infrastruktur – ein weiblicher Blick!
- (Beton. Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus.)
- Die Infrastruktur der Solidarität
- Ökologischen Transformation und gewerkschaftliche Interessenpolitik in der „neuen Welt imperialer Geopolitik“
() = Angefragt oder vorläufige Zusage)
Mit: Hans-Jürgen Bieling, Günther Bachmann, Jürgen Scheffran, Felix Wemheuer, Meiting Zhu, Andrea Theiß, Godela Linde, Silke Nötzel, Marianne Kolter, Hans-Jürgen Urban u.a..Erfahrungsgemäß ist die Tagung rasch ausgebucht. Wir bemühen uns darum, dass die Veranstaltung wie in den Vorjahren als Bildungsurlaub anerkannt wird. Wer an einer Teilnahme interessiert ist, möge sich ausschließlich per Mail bitte bei Godela Linde (Mail: godelalinde@gmx.de) oder Rainer Rilling (Mail: rilling@outlook.de) melden. Wir freuen uns, Euch auf der 20.Villa Rossa zu sehen.
Erste Beiträge / Input
Infrastrukturen als „Bodenschätze“ des Kapitalismus – technische und versorgende Infrastrukturpolitiken und ihre Akteure und Konflikte (Hans-Jürgen Bieling, Tübingen)
Zum Thema: Wir haben derzeit eine neue Konjunktur der Infrastrukturpolitik, in der die Bereitstellung, Organisation und Nutzung von öffentlichen – sozialen und stärker technischen – Infrastrukturen ausgehandelt werden. Die zukünftige Gesellschaft, ihre Produktions- und Lebensweise, wird hierdurch strukturiert. Entsprechend gibt es zahlreiche Infrastrukturkonflikte. In diesen reflektieren sich – in der Verknüpfung von lokalen, nationalen und globalen Prozessen – unterschiedliche Gestaltungslogiken.
Literatur: Streeck, Wolfgang (2019): Der alltägliche Kommunismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 64(6), 93-105.; Bieling, Hans-Jürgen/Möhring-Hesse, Matthias (2022): Öffentliche_infrastrukturen: gesellschaftliche Konflikte und staatliche Gewährleistung, in: Bürger & Staat 72(1-2), 4-11.
Zur Person: Hans-Jürgen Bieling ist Professor für Politische Ökonomie an der Universität Tübingen.
Unvollendet: Die Entdeckung der grünen Infrastruktur (Günther Bachmann, Frankfurt)
Zum Thema: Was tun Hamster, Wälder und der Taumel-Lolch für die Infrastruktur, außer dass sie Platz machen? Häfen, IT, Strassen, Leitungen – Infrastruktur ist grau/hart. Die grün/weiche Infrastruktur der Natur ist unterschätzt. Jetzt setzen Trends zur Kapitalisierung und Sozialisierung der Natur gleichzeitig ein. Der Kapitalismus hat Pferdekutschen ersetzt, jetzt macht er es mit Dampfmaschine und Öl. Aber die Vergesellschaftung ist grün.
Zur Literatur bzw. Text / Hinweis: Ich rate dazu, sich die Video-Serie Nature Is Speaking anzusehen, insbesondere Hannes Jaenicke, https://youtu.be/TCOqXByq2nU Julia Roberts (mit deutschen Untertiteln), https://youtu.be/2WULrYjZj9Y sowie Marie Nasemann https://youtu.be/SxlcgvJWLIc
Zur Person: Günther Bachmann unterstützt die Stiftung GegenStand seit langem. Er ist im Umweltschutz und in der Nachhaltigkeitspolitik aktiv. Näheres steht auf www.guentherbachmann.de.
Chinas Belt and Road-Initiative: Infrastruktur als Geopolitik? (Felix Wemheuer, Köln)
Zum Thema: Die chinesische Regierung propagiert die BRI-Initiative vor allem als eine Vielzahl von Infrastrukturprojekten, welche den eurasischen Kontinent enger wirtschaftlich verbinden und eine Win-Win-Situation für alle schaffen würden. Der Vortrag wird analysieren in welchem Zusammenhang das Projekt mit geo-strategischen Debatten in China sowie der Verschärfung des sino-amerikanischen Konfliktes steht.
Literatur / Texte erfolgen Anfang Juli
Zur Person: Felix Wemheuer ist Professsor für Moderne China-Studien an der Universität zu Köln und Vertrauensdozent der RLS. Zu seinen Veröffentlichungen gehören „Chinas große Umwälzung“, „Marktsozialismus“ sowie „A Social History of Maoist China“. Seit 2020 führt er auf seinem youtube-Sender „Studying Maoist China“ regelmäßig Interviews durch.
Ökologische Transformation und gewerkschaftliche Interessenpolitik in der ‚neuen Welt imperialer Geopolitik“ (Hans-Jürgen Urban, Frankfurt)
Zum Thema: Der Beitrag diskutiert die mehr als komplexe Lage gewerkschaftlicher Interessenpolitik in der ökologischen Transformation des fossilen Kapitalismus. Dies soll unter Berücksichtigung der globalen Veränderungen geschehen, die der schwedische Marxist Göran Therborn als Eintritt in eine Welt imperialer geopolitischer Konflikte beschreibt. Zugleich soll der Versuch unternommen werden, Aspekte der vorherigen Seminar-Diskussionen im Sinne einer Abschlussdebatte einzubeziehen.
Zur Literatur: Urban, Hans-Jürgen (2022), Zeitenwende wohin? in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7, S. 79-88.; Urban, Hans-Jürgen (2022): Treiber oder Vetospieler? Das Dilemma der Gewerkschaften in der sozial-ökologischen Transformation, in: Becke, Guido/Bleses, Peter (Hrsg.): Interdependenzen von Arbeit und Nachhaltigkeit. Weinheim: Beltz Juventa, 2022, S. 177-190.
Zur Person: PD Dr. Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandmitglied der IG Metall, zuständig für die Themen Sozialpolitik sowie Arbeitsgestaltung und Qualifizierungspolitik. Er ist Privatdozent an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Mitglied im Institutsbeirat DGB Index Gute Arbeit und Mit-Herausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“.
Stichwort zur Villa Rossa: Seit 1989 gibt es diesen „Lernort“ (Urban) unter verschiedenen Trägern und mittlerweile mit weit über 1000 Mitwirkenden (die Anzahl der Mitwirkenden – pro Seminarwoche 30-40 Teilnehmer und Teilnehmerinnen- ist begrenzt) und 120 ReferentInnen. Seit 2003 wird dieses einwöchige Seminar von der Stiftung gegenStand und dem ver.di Bildungswerk Hessen durchgeführt sowie von der Rosa Luxemburg Stiftung und Unterstützer*innen gefördert. Näheres zur Geschichte einer Villa findet sich in dem Buch „Mosaiklinke Zukunftspfade“ (2021). In der Historie geht es um Sinngeneratoren, patrimonialen Kapitalismus, Schotterstraßen, Steineichen, Lesungen, Zeit, romantische Bilder und Gefühle – und um Politik.